Piia Leino : Himmel
Buchbesprechung von Frank Rehag, August 2024
dt. Erstausgabe: 2022 - Schenk Verlag, Passau
finn. Originalausgabe: 2018 - Kustantamo S&S, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Taivas"
aus dem Finnischen von Tanja Küddelsmann
>>In den Aufzeichnungen der Zeit um die Jahrtausendwende finden sich nicht die geringsten Anzeichen für das Kommende. Die Figuren quellen über vor Gier und unvernünftiger Eifersucht, sie sind die ganze Zeit aktiv. Neben dem Verlangen nach sexuellen Beziehungen scheinen sie davon motiviert zu sein, Besitz anzuhäufen.<< (Piia Leino/Tanja Küddelsmann | Himmel | Seite 15)
Wir befinden uns im Helsinki des Jahres 2058, das nach dem vorangegangenen Bürgerkrieg zu einem Stadtstaat geworden ist und von einer zehn Meter hohen Mauer umgeben sein soll. Irgendwo bei Hämeenlinna soll diese verlaufen und das ehemalige Finnland in zwei Hälften teilen. Zumindest vermutet man das, denn die an der Macht stehende extreme Rechte hat den Zugang zu Informationen gesperrt. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, politische Dissidenten sind in den Norden geflohen, Gesellschaft und Wirtschaft sind zusammengebrochen, der Marktplatz Hakaniemi ist voll von Bettlern, Reisen ist unmöglich. In der Luft steht ein Geruch aus verdorbenem Meerwasser, Möwensuppe und Abfall. Eine große Lähmung hat eingesetzt, die Menschen leben isoliert in ihren Wohnungen und reden kaum miteinander, Kinder gibt es keine. Die Menschen bewegen sich nur noch raus auf die Straße, wenn es nötig ist, zum Einkaufen zum Beispiel. Produkte aus Heuschrecken und Mehlwürmern sowie Gemüse bilden die Grundlage der Ernährung. Niemand hegt mehr Visionen für eine bessere Zukunft. Wer es sich leisten kann, hat Zugang zu einer virtuellen Realität namens Himmel, eine süchtig machende heile Welt, in die die Nutzer so oft wie möglich vor der wahren Realität flüchten. Hier kann man das lebenswerte alte Helsinki zur Zeit um die Jahrtausendwende, die hängenden Gärten von Babylon oder das New York vor dem verheerenden Tsunami von 2043 besuchen; ebenso kann man durch die Regenwälder, die Normandie oder Pompeji streifen, all die schönen Orte, die es einmal gab.
In dieser virtuellen Welt treffen die beiden Hauptfiguren dieses Romans, der 28-jährige Akseli und die 26-jährige Iina, erstmals aufeinander. Beide haben die volle Lizenz zur Himmelnutzung erhalten. Iina wohnt mit Jalo zusammen, dem Gestalter der Himmelwelten und einem Freund ihres verschollenen Bruders Markus. Akseli arbeitet als Wissenschaftler an der Universität und erforscht die Gründe für die Apathie der Menschen. Iina und Akseli fühlen sich zueinander hingezogen, wissen ihre Gefühle aber nicht zu deuten. Sie beschließen, sich außerhalb des Himmels in der realen Welt zu treffen. Akseli erhält derweil eine zusätzliche Forschungsarbeit, er soll durch Selbsttest die Wirkung eines Medikaments erproben, das Lebensfreude und Lebenswille zurückbringt. Trotz der strengen Geheimhaltungspflicht weiht er Iina ein und gibt auch ihr die Tabletten. Von da an ändert sich vieles und die Freigabe des Medikaments könnte für die Machthaber unübersehbare Folgen haben...
Die letzten beiden Jahrzehnte standen in der finnischen Literatur vermehrt im Zeichen dystopischer Werke. Düstere Visionen über die Zukunft der Menschheit boomen und insbesondere in den 2010er Jahren wurden verhältnismäßig viele Bücher dieses Genres veröffentlicht, auch hierzulande sind einige davon in deutscher Übersetzung erschienen: Risto Isomäkis Ökothriller Die Schmelze, Ascheregen und Gottes kleiner Finger, Emmi Itärantas Roman Der Geschmack von Wasser zum Thema Wasserknappheit oder zuletzt Tuomas Oskaris Politthriller Tage voller Zorn und Im Sturm der Macht über den wieder erwachenden Rechtsextremismus. Auch im Kinder- und Jugendbuchsektor geht es in Timo Parvelas Kepler62-Reihe um Überbevölkerung und die Erforschung neuer lebensfähiger Planeten.
In Dystopien wird meist nur eines der brisanten Zukunftsthemen behandelt und deshalb sticht Piia Leinos hier vorliegender Roman besonders hervor. Fast alle der typischen dystopischen Elemente sind präsent - ein mutiger Ansatz der Autorin. Die Auswirkungen von sinnlosem Konsum, Klimawandel und Umweltzerstörung spielen ebenso eine Rolle wie die Folgen von Migrationswellen - hier vor allem als Resultat von Klimaflucht -, die Dominanz des politischen Extremismus, die Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die menschliche Gesellschaft, die wachsende Ungleichheit in Wohlfahrtsstaaten, die Geschlechterfrage sowie die Hinderung an freiem Zugang zu Informationen - es fehlen eigentlich nur Fantasien zu nuklearen Katastrophen. Jedoch sind die vielen Aspekte so engmaschig miteinander verknüpft, dass die befürchtete Überfrachtung ausbleibt und der Roman letztlich doch sehr überzeugend ist. Die Autorin klagt nicht zu sehr an und zeigt auch nicht mit dem Finger auf andere, dennoch liefert Himmel eine deutliche Aussage über die Verantwortungslosigkeit unserer heutigen Lebensweise. Die Zeitungsartikel, die Akseli während seiner Forschung findet, zeigen, dass Klimawandel und andere Bedrohungen bekannt waren, man es dennoch geschehen ließ. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Komik, dass im Jahr 2058 die virtuelle Wunschvorstellung von einer Lebensumgebung die ist, wie wir sie etwa in den 2010er Jahren vorfanden. Der Mangel an Emotionen in der Welt der Romanfiguren macht es für die Leser(innen) nicht leicht, sich mit den Protagonisten anzufreunden - mit Iina noch eher als mit Akseli -, doch ist das vermutlich die von der Autorin gewollte Herangehensweise, um in der düsteren Szenerie anzukommen. Piia Leino taucht tief in die Gedanken, Hoffnungen und Gefühle der Charaktere ein und reflektiert die Psyche der Figuren, die im Laufe der Lektüre nicht bloß Repräsentanten der sie umgebenden Welt bleiben, sondern Veränderung wollen - Iina noch eher als Akseli -, weil sie sich mit dem Status Quo nicht zufrieden geben - und das macht Hoffnung. Am Ende des Tunnels gibt es immer ein Licht, es liegt in den Händen der Menschen.